Immer wieder werde ich gefragt: Wie führt man ein Kulturprojekt wirklich interdisziplinär, ohne dass am Ende nur ein hübsches Etikett auf einer inhaltsleeren Zusammenstellung klebt? Diese Frage ist für mich keine theoretische Spielerei, sondern tägliche Praxis. In diesem Text teile ich Erfahrungen, Fehler und Werkzeuge, die mir geholfen haben, Projekte so zu gestalten, dass Disziplinen sich gegenseitig befruchten — und nicht bloß nebeneinander existieren.
Was bedeutet „interdisziplinär“ für mich?
Für mich heißt interdisziplinär nicht einfach, Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Sparten an einen Tisch zu holen. Es heißt, Rahmen so zu setzen, dass unterschiedliche Wissens- und Arbeitsformen produktiv aufeinandertreffen. Das ist ein prozesshaftes Arrangement: Wir schaffen gemeinsame Fragestellungen, gemeinsame Proben- oder Arbeitszeiten, und — ganz wichtig — gemeinsame Kriterien dafür, was Erfolg bedeutet.
Die häufigsten Fallen
Bevor ich konkrete Instrumente nenne, schildere ich drei Fallen, in die ich oft oder selbst getappt bin:
- Symbolische Diversität: Man lädt unterschiedliche Disziplinen ein, aber die Programmpunkte bleiben separat. Ergebnis: Publikum sieht ein buntes Programm, erkennt aber keine Verbindung.
- Ungleiche Machtverhältnisse: Eine Disziplin dominiert in Budget, Aufmerksamkeit oder Zeitplanung und formt das Projekt in ihrem Bild.
- Fehlende gemeinsame Sprache: Technische Vokabeln, Arbeitsroutinen, Erwartungshaltungen — ohne Vermittlung entstehen Missverständnisse, die kreative Prozesse ersticken.
Grundprinzipien, die ich anwende
Diese Prinzipien bilden bei mir die Kernstruktur jedes interdisziplinären Vorhabens:
- Fragestellung vor Format: Wir beginnen mit einer offenen Frage (“Was passiert, wenn…?”), nicht mit dem Format (“Lasst uns ein Konzert machen”).
- Gleichberechtigte Zeitinvestition: Jede Disziplin bekommt Raum für Explorationszeit — nicht nur Finalproben.
- Vermittlung als eigene Disziplin: Oft benötige ich jemanden, der „übersetzt“: eine Person, die technische, dramaturgische und kuratorische Anliegen zusammenführt.
- Iteratives Arbeiten: Kleine Tests, Feedback-Schleifen, Open-Rehearsals — statt großer Premieren ohne Publikumserprobung.
Praktische Schritte für die Projektplanung
Wenn ich ein neues Projekt aufsetze, folge ich einem pragmatischen Ablauf:
- Kick-off mit einer offenen Fragestellung und Workshop-Charakter.
- Mapping: Jede Teilnehmerin beschreibt Arbeitsweise, Bedürfnisse und Nicht-Verhandelbares.
- Design einer gemeinsamen Timeline mit Meilensteinen für Austausch, Proben und öffentliche Tests.
- Ressourcen-Check: Wer bringt welche Mittel, Räume, Technik, Netzwerk ein?
- Evaluation-Plan: Wie messen wir Wirkung — künstlerisch, gesellschaftlich, finanziell?
Tools und Formate, die helfen
Einige Werkzeuge haben sich in meiner Arbeit bewährt:
- Co-Creation-Sessions: Kurze, moderierte Sessions, in denen alle Disziplinen Skizzen zeigen — kein fertiges Produkt soll präsentiert werden.
- Open Studio / Open Rehearsal: Frühe öffentliche Tests generieren externes Feedback und verhindern, dass das Projekt in seiner eigenen Blase reift.
- Visuelle Protokolle: Skizzen, Storyboards, Moodboards helfen, komplexe Ideen über Sprachbarrieren hinweg zu vermitteln. Tools wie Miro oder einfache Whiteboards sind oft effektiver als lange E-Mails.
- Rollenklärung: Ein kurzes Governance-Dokument (2–3 Seiten) regelt Entscheidungswege, Budgetverantwortung und Rechte an Ergebnissen.
Wie man leere Bündelung vermeidet
Bündelung kann sinnlos werden, wenn sie nur Marketingzwecken dient. Diese drei Maßnahmen helfen, das zu verhindern:
- Gemeinsame Kernfrage: Wenn jede Maßnahme auf eine gemeinsame Frage antwortet, entsteht Kohärenz statt Zufallspartnerschaften.
- Performative Verknüpfung: Statt mehrere Solobeiträge hintereinander zu zeigen, setze ich auf Formate, in denen Elemente aus unterschiedlichen Disziplinen simultan oder dialogisch auftreten — z. B. ein Film, der live mit elektronischer Musik und einer performativen Lesung verschränkt wird.
- Dokumentation der Prozesse: Sichtbarmachen, wie die Zusammenarbeit entstanden ist, macht die Interdisziplinarität nachvollziehbar und verhindert, dass nur das Endprodukt bewertet wird.
Fragestellungen, die ich den Beteiligten stelle
In Interviews und Vorgesprächen frage ich gezielt nach Perspektiven, nicht nach Ressourcen. Das sind einige Fragen, die überraschend klären:
- Welche Narration oder welches Erlebnis möchten Sie mit anderen Disziplinen erkunden?
- Welche Arbeitsroutinen sind für Ihre Praxis unverzichtbar?
- Welche technischen oder ästhetischen Kompromisse wären denkbar?
- Wie möchten Sie Feedback geben und erhalten?
Ein kleines Praxisbeispiel
Neulich kuratierte ich ein Abendprogramm, das Film, Live-Elektronik und Spoken Word verband. Am Anfang sah das aus wie ein typisches „Programmheft-Bündel“: drei Gäste, drei Slots. Wir veränderten das, indem wir:
- eine gemeinsame Frage definierten: „Wie übersetzen wir Erinnerung in Zeit?“
- zwei gemeinsame Proben ansetzten, in denen der Filmemacher Szenen live mit Soundscapes und Textfragmente überlagern ließ;
- ein Open-Rehearsal mit zehn Zuschauerinnen und Zuschauern veranstalteten und Feedback sammelten;
- die Bühne so eingerichtet wurde, dass Projektoren, Synthesizer und ein schlichter Leseplatz sichtbar zusammenarbeiteten.
Das Ergebnis war kein additiver Abend, sondern ein dreiteiliger Fluss, in dem Elemente ineinandergriffen — und das Publikum spürbar involviert war.
Rollen und Verantwortlichkeiten im Blick
| Rolle | Aufgabe | Warum wichtig |
|---|---|---|
| Kuratorin / Moderatorin | Führt Diskussions- und Arbeitsformate, hält die Fragestellung im Blick | Verhindert Zerfasern und sorgt für Kohärenz |
| Technische Vermittlung | Sorgt für Übersetzung zwischen künstlerischen und technischen Anforderungen | Reduziert Missverständnisse und technische Blockaden |
| Produktion | Budgetplanung, Räume, Zeitmanagement | Sichert Durchführbarkeit |
Wenn Konflikte entstehen
Konflikte sind normal und oft produktiv, wenn sie produktiv verhandelt werden. Ich habe gute Erfahrungen mit folgenden Mechanismen gemacht:
- Eine Moderationsregel: Jede Person bekommt zwei Minuten, um zu sprechen, ohne unterbrochen zu werden.
- Spielregeln für Kompromisse: Kleine Experimente statt vollständiger Umstrukturierung.
- Externe Mediatorinnen bei finanziellen oder urheberrechtlichen Streitpunkten.
Interdisziplinäre Projekte sind lebendige Organismen. Sie verlangen Geduld, klare Sprache und einen Willen zur Übersetzung — nicht nur zwischen Genres, sondern zwischen Arbeitsweisen, Erwartungen und Kulturen. Wenn Sie möchten, schreibe ich gern in einem weiteren Beitrag über Vergütungsmodelle und rechtliche Fragen bei gemeinsamen Produktionen.