Über den Umgang mit Erzähltechniken

Wenn ich darüber nachdenke, wie oft in Filmkritiken Begriffe wie „Montage“, „Erzähltempo“ oder „subjektive Kamera“ verwendet werden, fällt mir auf: Viele Texte klingen ähnlich. Sie beschreiben, was passiert, aber selten, wie und warum das Erzählen im Film seine Wirkung erzielt. Mein Ziel hier ist es, einen praktischeren Zugang zu zeigen — einen, der über Kritikfloskeln hinausgeht und Leserinnen und Lesern Werkzeuge an die Hand gibt, um filmische Erzähltechniken selbst zu analysieren und zu erleben.

Von der Idee zur detailgenauen Beobachtung

Ich fange gern mit einer einfachen Übung an: Schau dir eine kurze Szene — zwei bis fünf Minuten — mehrfach an und notiere bei jedem Durchgang etwas anderes. Beim ersten Mal lasse ich mich eher treiben: Stimmung, erste Eindrücke, körperliche Reaktionen wie ein Kloß im Hals oder Gänsehaut. Beim zweiten Mal beobachte ich die Kamera: Wie bewegt sie sich? Welche Einstellungen folgen aufeinander? Beim dritten Mal höre ich nur: welche Geräusche dominieren, welche Musik setzt wann ein, wie ist der Raum akustisch gestaltet?

Diese fokussierten Durchgänge zwingen dich weg von allgemeinen Bewertungen (»Der Film ist langsam«) und hin zu konkreten Elementen (»Die Kamera verweilt drei lange Einstellungen auf das Gesicht der Protagonistin, ohne Schnitte — das verlangsamt das Zeitgefühl und erzeugt Intimität«).

Die Kamera als Erzähler

Eine der kraftvollsten Aussagen, die ein Film machen kann, ist: Wer sieht? Die Wahl der Perspektive — stabil, wackelig, aus der Sicht einer Figur, oder neutral — steuert unmittelbar, wie wir Informationen aufnehmen.

Ein praktischer Tipp: Frage bei jeder Szene „Was weiß die Kamera, was ich weiß?“ Wenn die Kamera einer Figur folgt, teilt sie deren Unwissenheit und Überraschung; wenn sie hingegen allwissend über den Raum schwebt, schafft das Distanz und ermöglicht dramatische Ironie. Mir ist das klar geworden, als ich zum ersten Mal Jean-Pierre Melvilles Noir-Filme bewusst analysierte: Die Kamera war oft ein kalter Beobachter, der uns nicht in die Psyche der Figuren zog, sondern ihre Isolation visuell verlängerte.

Schnitt, Rhythmus und Zeitgestaltung

Schnitt ist nicht nur technischer Austausch zwischen Einstellungen — er ist musikalisch. Wie in einem Song erzeugt das Timing von Schnitten Spannung, Erleichterung oder Desorientierung. Anstatt „schnelle Schnitte“ pauschal zu verurteilen, lohnt es sich, den Rhythmus zu messen: Gibt es ein Pattern? Wiederholen sich bestimmte Längen, um einen Puls zu etablieren? Wird der Rhythmus gebrochen, und wenn ja, mit welchem Effekt?

Ich empfehle die Beobachtung von sogenannten L-Schnitten oder J-Cuts (Audio-Überlappungen zwischen Einstellungen). Solche Techniken verflechten Szenen und erzeugen Zusammenhänge, die nicht durch Handlung allein vermittelt werden. In vielen modernen Serien nutze ich bewusst diese Überblendungen, um zu zeigen, wie subjektive Erinnerung und Gegenwart verschmelzen.

Sounddesign als Erzählinstanz

Oft unterschätzt: Sound kann Information transportieren, bevor ein Bild es tut. Ein Kaffeemaschinen-Klacken, ein entfernte Polizeisirene, ein plötzliches Schweigen — all das formt Erwartungen.

Wenn ich Filme analysiere, mache ich mir bewusst, welche Sounds off-screen stattfinden. Off-screen-Sounds erweitern den Narrativraum und lassen die Welt größer erscheinen, als die Einstellung zeigt. Versuche einmal, die Szene ohne Musik zu hören — häufig offenbart sie neue Bedeutungen. Ebenso kann bewusstes Sound-Fehlen (stille Momente) eine stärkere Wirkung haben als jede musikalische Untermalung.

Räume, Requisiten, Kostüme — visuelle Subtexte

Die banalsten Dinge erzählen oft am meisten: Ein abgegriffener Kaffeebecher, ein Türrahmen voller Aufkleber, Kleidung, die nicht zu einer Figur zu passen scheint — all das sind narrative Hinweise. Ich achte bei der Analyse darauf, ob Dinge konsistent bleiben oder ob Regisseur*innen bewusst Diskontinuitäten einsetzen, um Verunsicherung zu stiften.

Ein Beispiel: In einem Film, den ich kürzlich für das Blog beschrieben habe, war die Wohnung der Protagonistin mit Spielzeug dekoriert, obwohl sie allein lebt. Erst nach und nach entpuppte sich dieses Detail als Erinnerung an die verlorene Zeit — ein subtiler, visueller Anker, der ohne erklärende Dialoge arbeitete.

Erzählebenen und Informationsfluss

Ein zentrales Kriterium ist: Wer bekommt welche Information und wann? Filme strukturieren das Sehen oft wie ein Kartenspiel — manche Karten werden offen gelegt, andere verdeckt gehalten. Wenn die Regie Informationen verzögert, entsteht Spannung; wenn sie Informationen teilt, entsteht Nähe.

Ich unterscheide beim Sehen zwischen drei Ebenen: die diegetische Ebene (was innerhalb der Filmwelt passiert), die filmische Ebene (wie filmische Mittel die Geschichte formen) und die rezeptive Ebene (was der Zuschauer fühlt und denkt). Gute Erzähltechnik jongliert mit all diesen Ebenen. Beim Analysieren notiere ich, welche Ebene dominiert und wie Übergänge zwischen ihnen funktionieren.

Figurenpsychologie ohne erklärende Dialoge

Dialoge sind oft der bequemste Weg, Charaktere zu erklären. Spannender finde ich es, wenn Filmschaffende Charakter durch Aktion, Blick oder kleine Rituale zeigen. Ich achte deswegen auf wiederkehrende Gesten oder Blicke, die als „leise Motive“ fungieren.

Ein Beispiel: Eine Figur, die immer wieder ihr Hemd in die Hose stopft, könnte damit Unsicherheiten kaschieren. Solche Kleinigkeiten erzählen auf einer nonverbalen Ebene und lassen Raum für Interpretation — ein Schlüssel, um Kritikfloskeln wie »gut gespielt« zu vermeiden und konkret zu werden: »Die wiederholte Geste funktioniert als kompensatorisches Verhalten und offenbart innere Fragilität.«

Genreerwartungen hinterfragen

Genre ist ein nützlicher Kodex, der Erwartungen formt. Wenn ein Film diese Erwartungen bewusst unterläuft, passiert oft das Interessanteste. Statt zu sagen „der Film mischt Genres“, frage ich: Welche Erwartungen implementiert er? Welche werden erfüllt, welche gebrochen? Und welche Techniken erzeugen diese Effekte?

Beim Analysieren achte ich darauf, wie formale Mittel Genre-Konventionen bestätigen oder revidieren. Ein Thriller, der statt klassischen Suspense-Montagen langsame Tableau-Einstellungen verwendet, schafft eine andere Form von Spannung: eher existenziell als adrenalinreich.

Methoden, die du sofort anwenden kannst

  • Die 3-Schau-Methoden: einmal emotional, einmal formal (Kamera/Schnitt), einmal auditiv.
  • Notiere „Was weiß die Kamera?“, „Was weiß die Figur?“ und „Was weiß der Zuschauer?“
  • Suche nach visuellen Motiven (Wiederholungen von Farbe, Form, Requisite) und notiere ihre Auftauchhäufigkeit.
  • Höre Szenen ohne Bild, um das Sounddesign bewusster wahrzunehmen.
  • Verfolge Schnittrhythmen: sind Einstellungen tendenziell lang oder kurz? Ändert sich das Tempo innerhalb einer emotionalen Entwicklung?

Werkzeuge und Ressourcen

Ich arbeite oft mit einfachen Tools: VLC oder QuickTime erlauben framegenaues Vor- und Zurückspulen; Audacity eignet sich, um die Tonspur zu isolieren. Bei komplexeren Analysen finde ich Bücher wie David Bordwells "Narration in the Fiction Film" hilfreich — nicht als Dogma, sondern als Vokabular.

Für digital orientierte Analysen empfehle ich, kurze Clips als GIFs oder Zeitraffer zu exportieren, um Wiederholungen visuell zu betonen (Achtung: Urheberrechte beachten). Auf Festivals beobachte ich auch gern die Zuschauerreaktionen live — manchmal sagen Lacher oder Stille mehr über eine Technik aus als jede theoretische Beschreibung.

Zum Weiterlesen und Anwenden

Wenn du anfangen möchtest, regelmäßig zu analysieren: Wähle jede Woche einen Film oder eine Serie und konzentriere dich auf eine Technik. Teile deine Beobachtungen online oder im Freundeskreis — das zwingt dich, präzise zu formulieren und deine Deutungen zu verteidigen. Dialog verändert die Sichtweise, und das ist ja genau der Punkt: Kultur soll verstanden und diskutiert werden.